Woche 38 - Saigonara

Letzte Woche habe ich mich mit einigen Bildern von einer wunderbaren Regenfahrt mit euch verabschiedet. Der Weg nach Ho-Chi-Minh-City ging genau so weiter. Am Samstagmorgen habe ich mich schon früh auf den Weg gemacht. An diesem Tag standen nämlich gleich zwei Punkte an, die für gewöhnlich viel Zeit kosten, ein Grenzübergang und die Ankunft in einer Metropole. Ich wollte also auf jeden Fall genug Zeit einplanen, um nicht in die Dunkelheit zu geraten. Dass ich an diesem Tag früher oder später eine Dusche bekommen würde, war mir am Morgen bereits klar!
Bis zu vietnamesischen Grenze waren es rund 45 Kilometer und so war ich bereits um zehn Uhr mittags dort, darauf eingestellt, dass ich ein bis zwei Stunden dort verbringen würde. Aber dem war nicht so. Selten hatte ich einen Grenzübergang, der schneller ging. Mit einem deutschen Pass bekommt man für Vietnam ein kostenloses „Visa on arrival“ für die Gültigkeitsdauer von 15 Tagen, das man bei Belieben um die selbe Dauer verlängern kann. Da ich noch nicht genau wusste, wie lange ich mich in Vietnam aufhalten würde, war ich mit dem 15 Tage Visum vorläufig zufrieden. In der Grenzhalle war die Hölle los. Ich reihte mich brav in einer meterlangen Schlange ein, die vom „Visa on arrival“ Schalter wegführte. Kaum eine halbe Minute später kam ein Mann zu mir und sagte, dass er mir im Handumdrehen einen der begehrten Stempel besorgen könne. Ich solle nur zwanzig Dollar in meinen Pass legen und Schwups, sei die Sache erledigt. Zeit ist Geld dachte ich mir, aber auf der Flucht bin ich auch nicht. Die Kohle spare ich mir lieber. Schon kam ein zweiter Mann und bot mir selbigen Dienst für „fiteen Dollah“ an. Ach so funktioniert das Spiel also! Zwei Minuten später hatte ich einen Mann gefunden, der mir einen Stempel für 3$ zu besorgen bereit war und zwei weitere Minuten später hatte ich mein 15 Tage Visum in meinem Pass und konnte ohne weitere Kontrollen weiterfahren.

Ich war nun also in Vietnam, Land Nummer 16 auf meiner Reise. Den Unterschied zu Kambodscha merkte ich erstaunlicherweise sofort. Nachdem an der Grenze von Thailand zu Kambodscha der Verkehr von der linken auf die rechte Straßenseite wechselte und etwas wilder wurde, merkte ich nach dieser Grenze, dass die Zahl der Roller um gefühlte 300 Prozent anstieg. Außerdem machte nun wirklich jeder was ihm gerade in den Sinn kam und auch der Seitenstreifen hatte seine Bedeutung vollständig verloren. Es dauerte nicht lang, da hatte mich ein LKW entweder übersehen oder er störte sich an einem Radfahrer auf der Fahrbahn, sodass er neben mich fuhr und mich einfach von der Straße abdrängte. Ich musste auf die abschüssige Wiese neben der Fahrbahn ausweichen, konnte aber glücklicherweise die Kontrolle über mein Fahrrad bis zu meinem Stillstand behalten. Ich hatte auf der Reise schon zahlreiche brenzlige Situationen. Als Radfahrer ist man das schwächste Glied im Straßenverkehr und auch wenn wir die Geschwindigkeitsweltmeister sind, ist nirgendwo der Verkehr so geregelt wie in Deutschland. Und selbst da ist man den Autofahrern als Radfahrer häufig hilflos ausgeliefert. An solche Situationen gewöhnt man sich und man geht mit den Gefahren des Straßenverkehrs immer gelassener um. So eng und offensichtlich gefährlich war es auf meiner Reise bislang jedoch relativ selten und mir ist ein ganz schöner Schrecken in die Knochen gefahren. Kurz danach hat der Stadtverkehr von Ho-Chi-Minh-City eingesetzt und ist auf meinem persönlichen Rating der gefährlichsten Fahrradstädte, direkt an Teheran und Istanbul vorbei auf Platz eins geklettert. So absurd es klingen mag, ist in Städten, trotz Gefahr, schlechter Luft, Verkehr und ständigem Stop-and-Go, immer auch ein nicht zu unterschätzender Spaßfaktor dabei. Man muss sich zu 100 Prozent fokussieren und dann mit dem Flow fahren. Manchmal muss man dreist sein, manchmal geschickt. Es macht Spaß! Trotzdem ist man natürlich wesentlich langsamer unterwegs und nachdem man sich 20 Kilometer in zwei Stunden durch den Metropolverkehr geschlängelt hat, ist man zwangsläufig ein wenig erschöpft und glücklich, wenn man heil an seinem Zielort ankommt. Diesmal kam noch hinzu, dass mich die letzte Stunde lang natürlich der Monsun wieder eingeholt hat. Vierfach froh, war ich also, als ich mein Rad in der Tiefgarage bei meinem Kumpel im Gebäude abstellen und mich in seiner Wohnung sogar in die Badewanne legen konnte. Er war arbeitstechnisch über das Wochenende eingebunden und selbst nicht da, hat mir aber seine Wohnung trotzdem überlassen. Und das, obwohl wir uns schon seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatten!! Ich hatte also alle Zeit der Welt, einmal tief durchzuatmen und meine aktuelle Lage zu sondieren.

Das war dringend notwendig, denn schon auf den letzten Etappen hat sich eine gewisse Unlust in mir breit gemacht. Ich habe ständig super lange Tage im Sattel eingelegt. Zum einen weil ich es konnte, zum größeren Teil aber weil ich einfach möglichst schnell von a nach b kommen wollte und gar keine große Lust mehr hatte, mir die Zeit zu nehmen um die Gegend zu erkunden. Ich stellte fest, dass ich mich nicht mehr so sehr über einzelne Streckenabschnitte, Ereignisse oder Sehenswürdigkeiten freute. Der Regen war lästig, hat mich aber auch nicht so richtig geschockt. Alles in allem, fühle ich mich bis zu den Ohren gefüllt von unverarbeiteten Eindrücken, Unvermögens, den kommenden Events mit Freude entgegenzublicken, weil ich sie gar nicht mehr richtig aufnehmen kann. Ich bin nun neun Monate unterwegs, in denen sich beinahe jeder einzelne Tag so ereignisreich angefühlt hat, wie eine ganze Woche und ich habe niemanden an meiner Seite, der mir vertraut ist, mit dem ich diese ganzen Ereignisse teilen kann. Ich kann sie nur in meinen Laptop eintippen. Das ist alles nicht weiter tragisch und ich möchte betonen, dass ich mich über keine Sekunde der vergangenen Monate beklagen möchte. Hochs und Tiefs, alles gehört dazu und für alles bin ich dankbar. Man muss sich meines Erachtens dennoch die Fähigkeit bewahren, auf sein Bauchgefühl zu hören und darauf zu reagieren. Deshalb habe ich einen sehr detaillierten Plan erstellt, wie es weitergehen könnte, ihn anschließend zerknüllt, im Papierkorb versenkt und stattdessen ein Zugticket von Ho-Chi-Minh-City in den Norden nach Hanoi gekauft.


In der Nähe von Hanoi wartet nämlich ein Zen-Tempel auf mich, den ich für eine Woche besuchen möchte, um von den Mönchen etwas über Buddhismus und Meditation zu lernen. Kein Schweigekloster, aber ein strikter Tagesablauf, geprägt von Meditation und körperlicher Arbeit. ohne digitale Medien oder anderen Ablenkungsmitteln. Der perfekte Ort, um einmal die Gedanken zu sortieren und in mich hinein zu hören, wie ich weitermachen möchte. Am morgigen Samstag werde ich die 80 Kilometer bis zum Kloster mit dem Fahrrad zurücklegen und mich dann für eine Woche dort einquartieren. Ich bin mir ganz sicher, dass ich danach ein Stückchen schlauer sein werde.